„Hilfe - meine Muskeln sind verkürzt.“
Diesen Satz hören PhysiotherapeutInnen nicht nur einmal am Tag von ihren PatientInnen. Doch können Muskeln wirklich verkürzen, weil sie längere Zeit nicht gedehnt wurden oder mehrere Stunden am Tag in der gleichen Stellung verharren, wie es z.B. bei Büroangestellten der Fall ist? Um zu verstehen, was beim Dehnen im Muskel passiert, ist es hilfreich, den groben Aufbau eines Skelettmuskels zu kennen.
Ein Muskel besteht aus vielen Muskelfasern, diese bestehen wiederum aus zahlreichen Muskelzellen. Die Fasern verlaufen parallel und bilden Muskelfaserbündel. Jede Muskelfaser enthält sogenannte Myofibrillen, die aus Aktin, Myosin und Titinfilamenten bestehen. Aktin und Myosin bilden die kontraktilen (zum aktiven Zusammenziehen fähig) Bestandteile, welche bei einer Dehnung auseinander gezogen werden. Nun kommt das Bindegewebe des Muskels, die „berühmte“ Faszie ins Spiel: diese elastische Umhüllung kämpft gegen die Dehnung an, setzt also einen gewissen Widerstand entgegen, um den Muskel vor einer unphysiologischen Dehnung zu schützen. Die elastischen Titinfilamente sorgen dafür, dass Aktin- und Myosinfilamente nicht zu weit voneinander entfernt werden und bringen den Muskel nach der Dehnung wieder in seine ursprüngliche Form.
Der Muskel wird demnach NICHT länger durch das Dehnen. Regelmäßiges Dehnen kann allerdings die Dehnungstoleranz der elastischen Strukturen im und um den Muskel erhöhen. Dadurch wird schließlich auch die Gelenkbeweglichkeit verbessert. Im Umkehrschluss: Ein Muskel kann NICHT verkürzen - Muskelgewebe verliert an Dehnungstoleranz.
„Dehnungs…was?“
Die Ursache für eine reduzierte Dehnungstoleranz eines Muskels ist sehr häufig eine muskuläre Dysbalance. Das bedeutet, dass ein Muskel im Vergleich zu seinem Gegenspieler (Antagonisten) viel kräftiger ist und eine erhöhte Spannung (Muskeltonus) aufweist. Wenn ein Muskel dauerhaft mehr Tonus hat als der andere, kommt es zu unphysiologischen Spannungsverhältnissen im Gelenk. Die Folgen sind dann Bewegungseinschränkungen und Gelenkschmerzen. Daher gilt es unbedingt und individuell herauszufinden, welche Muskeln gestärkt und welche gedehnt werden müssen.
„Und wie lange halte ich die Dehnung?“
Auch bei dieser Frage gibt es keine klare Antwort. Es gibt verschiedene Dehnmethoden mit unterschiedlichen Effekten. Beim statischen Dehnen wir eine Position über eine bestimmte Zeit eingenommen, hier reichen die meisten Empfehlungen von 15 Sekunden bis 2 Minuten. Das dynamische Dehnen kennzeichnet sich durch mehrfach wiederholte federnde Bewegungen aus. Schmerzen sollten bei beiden Methoden nicht auftreten, da diese reflektorisch den Tonus eher erhöhen und somit die Dehnbarkeit verhindern. Ein leichtes Spannungsgefühl wird allerdings toleriert.
„Wann dehne ich mich am besten?“
Angenommen für die Sportart ist eine gute Beweglichkeit erforderlich, macht es mit Sicherheit Sinn, bestimmte Muskelgruppen vor dem Sport zu dehnen. Bei der rhythmischen Gymnastik wäre dies zum Beispiel der Fall.
Bei Sportarten mit schneller Kraftentwicklung hingegen, konnten Studien belegen, dass sich das Dehnen vorher negativ auf die Entwicklung der Schnellkraft der gedehnten Muskulatur auswirkt. So sollte bei Kraftsport und Sportarten mit Sprüngen, Sprints (z.B. Volleyball, Handball, Fußball) auf statische Dehnungsübungen verzichtet werden.
Die Annahme, dass ein ausgiebiges Dehnprogramm nach Sporteinheiten hilft, einem Muskelkater entgegenzuwirken, ist leider falsch. Gerade nach einem intensiven Training sollte darauf besser verzichtet werden. Durch die intensive Belastung kann es zu Mikroverletzungen im Muskel (=Muskelkater) gekommen sein, welche durch Dehnreize noch verstärkt werden können. Deshalb wird empfohlen, Dehnungen erst ein paar Stunden später oder am nächsten Tag als eine eigenständige Trainingseinheit durchzuführen.
Die entscheidende Frage: „Was möchte ich durch das Dehnen erreichen?“
Im ganzen Wirrwarr des Dehnens sollte man sich also zunächst die Frage stellen: „Was möchte ich dadurch erreichen?“
Geht es um eine Beweglichkeitsverbesserung im Gelenk, weil die endgradige Bewegung erforderlich ist, um den Spagat zu schaffen? Möchte ich die Spannung im Muskel reduzieren? Geht es um eine gewisse Schmerzreduktion oder die Behandlung bestimmter Krankheitsbilder?
Zusammen mit deinen TherapeutInnen findest du unter Berücksichtigung dieser Dinge sicher den „richtigen“ Weg zu Dehnen!
Deine Annika Reichenberger (staatl. geprüfte Physiotherapeutin, B. Sc. Integrative Gesundheitsförderung)
Quellen:
- Clauss W, Clauss C. (2018). Humanbiologie kompakt (2. Aufl.). Springer Spektrum.
- Moo EK, Fortuna R, Sibole SC, Abusara Z and Herzog W (2016) In vivo Sarcomere Lengths and Sarcomere Elongations Are Not Uniform across an Intact Muscle. Front. Physiol. 7:187. doi: 10.3389/fphys.2016.00187